Die unsichtbaren Kümmerer

Wenn Kinder und Jugendliche Pflegeverantwortung übernehmen müssen

Sie versorgen die kranken Familienmitglieder mit Tabletten, wechseln Windeln, organisieren Haushalt, Wäsche, Einkauf und müssen ständig auf Abruf sein. Doch keiner sieht die völlig erschöpften Kinder und jungen Menschen in Pflegeverantwortung. Dabei gibt es eine halbe Million Young Carers in Deutschland. Das Team von ‚echt unersetzlich‘ in Berlin berät die Jugendlichen mit Pflegeverantwortung fachkundig.

 

 

Von Gitta Schröder

 

 

 

Was tun, wenn die psychisch labile Mutter dauernd weint und die jüngeren Geschwister nicht wissen, was eine Depression ist? Wie den Vater unterstützen, der einen schweren Schlaganfall erlitten hat und nach der Reha nach Hause kommt, sich aber nicht selbst versorgen kann? Wie die demente Großmutter bremsen, die nachts nach draußen auf die Straßen laufen will? Und wohin die Schnapsflaschen der alkoholkranken Mutter verstecken? Diese und andere Fragen müssen sich rund 500 000 junger Menschen stellen, die schon früh mit der Pflegeverantwortung für eine oder mehrere Familien-Angehörige konfrontiert sind.

Mara Rick        Foto: Martin Kirchner

 

„Leider trauen sich viele der Young Carers nicht, bei Behörden oder Bekannten um Unterstützung, Geld oder Rat zu bitten, weil sie negative Konsequenzen befürchten“, weiß Mara Rick, Projektleiterin der Beratungsstelle ‚echt unersetzlich‘ vom Diakonischen Werk Berlin Stadtmitte. „Denn das Thema Jugendschutz spielt für Young Carers natürlich eine Rolle.

 

„Deshalb unterstreichen wir in unseren Beratungsgesprächen immer ganz besonders, dass die jugendlichen Anrufer oder Mail-Schreiber anonym bleiben können und sichern ihnen Verschwiegenheit zu“, so Mara Rick, die im Januar 2022 die Leitung von „Pflege in Not – Beratung bei Konflikt und Gewalt in der Pflege“ übernahm, wozu auch der Projektschwerpunkt ‚echt unersetzlich‘ gehört – ein Beratungsteam aus PsychologInnen, Krankenschwestern und SozialarbeiterInnen, von denen zwei Kräfte für ‚echt unersetzlich‘ tätig sind. Dieses zusätzliche Beratungsangebot für junge Menschen mit Pflegeverantwortung wurde 2017 gegründet, um auf die traurige Tatsache zu reagieren, dass in Deutschland rund 500 000 Kinder und Jugendliche ihre chronisch kranken Angehörigen betreuen – also Young Carers sind.

 

 

 

Mara Rick verwendet den Begriff „Young Carers“ deshalb, weil diese Kinder und Jugendlichen in England bereits früh gesehen und ernst genommen wurden. „Aber auch, weil der Begriff „Junge Pflegende“ zu kurzgefasst ist“, sagt Rick. Denn was Young Carers in ihren Familien leisten, geht über Verbände-Wechseln wechseln, Tabletten stellen und zu Arztterminen begleiten weit hinaus. „Manche der betroffenen Jugendlichen müssen zum Beispiel sogar die Finanz-Angelegenheiten regeln, die Geschwisterkinder erziehen oder für den Familienunterhalt jobben, weil die alleinerziehende, kranke Mutter ausfällt“, erzählt Mara Rick von den belastenden Situationen der jungen Menschen in Pflegeverantwortung.

 

 

 

Und anders als bei anderen Gleichaltrigen, die mit Spielen, Ausgehen, Kino, Freizeit, Sport oder Verlieben beschäftigt sind, dreht sich bei Young Carers vieles nur um Pflichten wie Kochen, Putzen, Waschen, Bettenbeziehen, Einkaufen. Da verwundert es nicht, dass einige der jungen Kümmerer an ihre psychischen oder gesundheitlichen Grenzen stoßen, sich manchmal regelrecht sozial isolieren oder in der Schule immer schlechtere Leistungen erbringen.

 

„Viele Lehrerinnen und Lehrer vermuten hinter einem übermüdeten Schüler oder einer unaufmerksamen Schülerin aber eher, dass Party gemacht oder nächtelang an der Playstation gezockt wurde. Der Gedanke an eine schwierige Situation zuhause kommt den wenigsten“, sagt Mara Rick. Sie und ihre MitarbeiterInnen bieten daher Info-Seminare in Schulen an, um stärker für das Thema zu sensibilisieren. „Oft stoßen wir dabei auf ein sehr erstauntes Fachpersonal, das noch nie von Young Carers gehört hat. Wenn wir ihnen dann sagen, dass 6 Prozent aller Jugendlichen zwischen 10 und 19 Jahren ein chronisch krankes Familienmitglied pflegen und dass das bedeutet, dass etwa ein bis zwei Betroffene in jeder Klasse sitzen, sind die Lehrkräfte schockiert“, erzählt Mara Rick.

 

Ein anderes Problem vom Schatten-Dasein der Young Carers ist aber auch, dass die betroffenen Jugendlichen nur selten über ihre häuslichen Probleme sprechen – aus Angst vor Ausgrenzung und Stigmatisierung. Wer erzählt den Freunden, Bekannten, Nachbarn oder Lehrern schon gerne offen über den schizophrenen Vater, die tablettenabhängige Mutter oder den autistischen Bruder? Häufig wird den Kindern von der Familie außerdem ein Schweige-Gebot auferlegt. Denn manche Eltern fürchten auch das Einschreiten von Behörden.
„Insofern gilt die traurige Beobachtung: Je größer der Unterstützungsbedarf, desto unsichtbarer die Familie“, stellte schon Professor Dr. Sabine Metzing von der Uni Witten/Herdecke fest, die sich seit 2005 als eine der ersten Wissenschaftlerinnen in Deutschland mit dem wichtigen Thema von pflegenden jungen Mädchen und Jungen befasst und seither viele Studien, Bücher und Publikationen dazu veröffentlichte. Immer wieder hatte Metzing auf die massive Überforderung der Jugendlichen hingewiesen und auch Ärztinnen und Ärzte aufgefordert, Kinder von Patienten verstärkt im Blick zu haben.

 


Doch leider bleibt die Politik und Gesellschaft bislang von all diesen Zahlen, Apellen und Forschungen weitestgehend unbeeindruckt. Das Bundesministerium für Familie, Senioren, Frauen und Jugend hat zwar die Homepage
www.pausentaste.de für Young Carers ins Netz gestellt – mit Infos für jugendliche Pflegende und Fachpersonal wie Lehrer und Erzieher sowie (Internet-)Adressen von Anlaufstellen. Aber direkte, kostenlose Anlaufstellen finanziert das Ministerium nicht und lässt die 500 000 jungen Betroffenen weiter mit ihrer unfassbaren Verantwortung alleine stehen. Auch die Länder folgen nicht dem Berliner Vorbild, das die kostenlose, fachkundige und krankheitsübergreifende Beratungsstelle ‚echt unersetzlich‘ fördert.

 

„Deshalb erreichen uns auch immer wieder bundesweite Online-Anfragen und Hilferufe von Young Carers, die über Instagram, Facebook oder die Google-Suche auf uns aufmerksam werden“, sagt Mara Rick. „Und wenn die sich zunächst anonym an uns wenden, lehnen wir sie natürlich nicht ab, auch, wenn wir eigentlich in erster Linie ein Angebot für Menschen in Berlin sind.“ Oft erwächst aus dem ersten, vorsichtigen Kontakt dann eine Online-Beratung oder ein Whatsapp-Dialog und vielleicht mündet das Ganze sogar in ein persönliches (Telefon-)Gespräch – je nachdem, mit welchen Problemen und Fragen die Young Carers an das ‚echt unersetzlich‘-Team herantreten.

 

„Wir bieten außerdem an, mit der ganzen Familie persönlich zu sprechen“, sagt Rick. „Aber meistens wollen die Young Carers lieber alleine mit uns reden – vielleicht als erste Auszeit und Ich-Zeit, die sie sich selbst gestatten.“

 

Der Name der Beratungsstelle – ‚echt unersetzlich‘ – greift diesen Punkt übrigens ebenfalls auf und soll ein klein wenig ironisch klingen, denn er unterstreicht, dass die Young Carers zwar eine immense Stütze für ihre Familien sind, „aber wir möchten den jungen Ratsuchenden auch vermitteln, dass sie selbstverständlich ab und zu ersetzbar sind und die Verantwortung abgeben dürfen“, sagt Mara Rick.

So können die Familien zum Beispiel eine Haushaltshilfe beantragen, Pflegeleistungen oder auch weitere individuelle Unterstützungsmöglichkeiten”, erzählt die Sozialarbeiterin mit Master in ‚Sozialer Arbeit in der alternden Gesellschaft‘. „Und wir bestärken die Young Carers außerdem darin, sich auch im Pflegealltag immer wieder Pausen und Zeit exklusiv für sich einzuräumen“, so die Berliner Projektleiterin weiter. „Gut ist auf jeden Fall schon einmal, wenn die Mädchen und Jungen bei der Google-Suche auf uns stoßen und überhaupt wahrgenommen haben, dass sie Young Carers sind und Hilfe benötigen.“

 

Doch leider begreifen viele Kinder und Jugendliche das noch gar nicht, sondern finden sich einfach mit der Situation ab, dem kranken Familienmitglied beizustehen und plötzlich 1000 verantwortungsvolle Aufgaben zu übernehmen.

 

Aus diesem Grund ist es auch so wichtig, ErzieherInnen, LehrerInnen, ÄrztInnen und Fachpersonal auf das Thema hinzuweisen, findet Mara Rick. Dann werden die 500 000 unsichtbaren, jungen Kümmerer hoffentlich irgendwann eine Lobby haben und entlastet werden.

 

 

 

 

 

Kontakt für anonyme Online-Beratung oder persönliche Gespräche:

 

Homepage: www.echt-unersetzlich.de  

 

E-mail: echt-unersetzlich@diakonie-stadtmitte.de

 

Tel.: 030 – 61202482

 

Whatsapp: 0157 - 80602760

 

Instagram: echt_unersetzlich

 

Facebook: Echt unersetzlich – Beratung für Jugendliche mit Pflegeverantwortung

 

 

 

 

 

Das Echt-unersetzlich-Team empfiehlt folgende vertrauenswürdige Infoseiten zu körperlichen und psychischen Erkrankungen:

 

  • Was hab ich – Hier kannst Du fragen, wenn Du nicht sicher bist, welche Krankheit Dein Familienmitglied eigentlich hat und wie sie sich auswirkt. Wenn Du weißt, welche Krankheit es ist, kannst Du sie Dir per Email erklären lassen. Auch anonym und natürlich kostenlos!
  • Superhands – ein Projekt der Johanniter – bietet eine gute Übersicht über viele Krankheiten.
  • Medizin-für-Kids ist ein allgemeines Medizin-Lexikon für Kinder mit Erklärungen für Fachbegriffe.
  • Kinder krebskranker Eltern gibt Informationen zu Krebserkrankungen. Es gibt eine Rubrik für Kinder und eine Rubrik für Jugendliche.

 


Ich hätte mir jemanden gewünscht, der mir zuhört und mich wahrnimmt

Luisa Hoffmann* (26), Pflegefachkraft aus Berlin pflegte ihre MS-erkrankte Mutter bis zu ihrem Abitur. Im Interview schildert sie ihren Alltag als Young Carer

 

 

 

1.    Mögen Sie von Ihrem Hintergrund als Young Carer erzählen?

Ich bin sozusagen in meine Situation als junge Pflegende hineingeboren worden, denn meine Mutter hat seit über 30 Jahren Multiple Sklerose. Da gehörte es für mich als Einzelkind früh zum Normalzustand, in die Pflege meiner Mutter mit eingebunden zu sein. Zudem war mein Vater komplett berufstätig und daher auch nicht viel da. Da habe ich im Haushalt alles gemacht – Kochen, Bügeln, Einkaufen, Wäsche, Abendbrot für meine Mutter und mich. Später, als es meiner Mutter schlechter ging, kam dann auch noch das Pflegerische dazu – Unterstützung beim Toilettengang und so weiter. Heute hat meine Mutter den Pflegegrad 5 – es gibt keinen höheren Grad. Sie ist also körperlich schwerstbehindert und wird mittlerweile von Familie, Freunden und einem Pflegedienst betreut.

 

2.    Haben Sie sich jemandem anvertraut?

Ich habe mich niemanden wirklich anvertraut. Es hatte damals nämlich sowieso niemand Verständnis für meine Situation. Nur als Beispiel: Meine Lehrer wussten eigentlich, dass meine Mutter sehr krank ist, aber wenn ich im Unterricht zusammengebrochen bin und geweint habe, hat mich nachher keiner von ihnen zur Seite genommen und nachgefragt. Und meine guten Freunde hatten zwar Verständnis, waren aber mit anderen Dingen beschäftigt. Ich habe aber auch nur selten einen von ihnen mit nach Hause genommen. Das wollte ich nicht.

 

3.    Welche Hilfestellung hätten Sie sich gewünscht?

Damals hätte ich vor allem emotionale Unterstützung gebraucht. Einen Menschen, der mir zuhört, mich wahrnimmt und mich sieht.

 

4.    Wann wurde Ihnen bewusst, dass Sie sich in einer besonderen Situation befinden?

Man ist sich als Kind, das pflegt, noch gar nicht der körperlichen und vor allem emotionalen Belastung bewusst. Es gehört halt einfach dazu. In der Grundschule habe ich nur gemerkt, dass ich nicht so bin wie die anderen Kinder. Dass ich nicht mit so einer Leichtigkeit und Unbeschwertheit durchs Leben gehe, sondern immer sehr vernünftig bin. Ich wollte auch nie Probleme machen, denn meine Eltern hatten ja schon genug.
Richtig begriffen habe ich die frühere Belastung erst, als ich nach dem Abitur von zu Hause auszog und mich plötzlich total befreit fühlte. Meine Eltern haben mich übrigens darin bestärkt, auszuziehen.

 

Auf einmal merkte ich, dass ich ein Recht auf ein eigenes Leben habe und mich nicht dauernd der Pflegesituation unterordnen muss. Wahrscheinlich habe ich auch deshalb bewusst den räumlichen Abstand gesucht und wohne heute 2 ½ Stunden von meinen Eltern entfernt. Wobei ich natürlich jederzeit schnell bei ihnen sein kann und ich habe auch nach wie vor sehr engen telefonischen Kontakt. Außerdem sind die Gedanken im Kopf natürlich nie ganz weg. Aber ich genieße meine neue Freiheit, treffe Leute und hole vieles nach, was ich verpasst habe.

 

Mittlerweile mache ich eine Ausbildung zur Pflegefachkraft. Durch meinen Hintergrund und mein Aufwachsen habe ich eine hohe Sozialkompetenz und Selbstorganisation entwickelt. Das sind meine absoluten Stärken, die mir in diesem Beruf sehr helfen.

 

5.    Sie sind heute im Beirat von ‚echt-unersetzlich‘ tätig, um die Situation von Young Carers zu verbessern. Was würden Sie anderen Betroffenen empfehlen?

Mein Rat ist, den Mund aufzumachen und um Unterstützung zu bitten. Denn zu erkennen, dass man Hilfe braucht, ist keine Schwäche sondern eine Stärke. Aus eigener Erfahrung weiß ich nämlich, dass es nicht gut ist, alles mit sich selbst auszumachen und in sich hineinzufressen. Stattdessen sollten die Young Carer sich Angehörige, Vertrauenslehrer, Sozialarbeiter zum Beispiel in Beratungsstellen wie ‚echt unersetzlich‘ oder einen Menschen suchen, dem sie sich öffnen und zu dem sie sagen können: ‚Mir geht’s nicht gut‘.

 

Vor allem aber muss es ein größeres Bewusstsein bei den Erwachsenen geben – in Kitas, Schulen, Sportvereinen. Denn weil Kinder und Jugendliche ihre Situation als Pflegende oft noch gar nicht erfassen können, müssen die Erwachsenen dafür sensibilisiert werden, nicht wegzusehen sondern genau hinzuschauen und zu helfen.

 

6.    Wie kann man Young Carers Ihrer Meinung nach am besten erreichen?

In die Schulen zu gehen, finde ich wichtig. Und wie gesagt – eine breite Öffentlichkeit auf das Thema aufmerksam machen. ‚Echt unersetzlich‘ wirbt außerdem mit Radiospots auf bestimmten Sendern, die von Jugendlichen gehört werden oder auf Instagram. Aber es ist und bleibt schwer, diese Kinder und Jugendlichen zu erreichen. Da sind die Erwachsenen gefragt, wachsamer zu sein.

 

 

 *Name ist bekannt, wurde aber anonymisiert